Von Wolfhard F. Truchseß HAMELN. Es ist die Art und Weise von Heinz Rudolf Kunze wie er seine Texte liest, wie er seine kleinen Geschichten zum Leben erweckt, wie er sie in die Köpfe der Zuhörer einsickern lässt und ihnen so ihren Witz und gedankenschweren Inhalt offenbart. „Das Buch Schwebebalken zu lesen, war für mich schwierig“, kommentierte Rainer Hinzmann die Rezitation des Sängers, Songschreibers, Poeten und Wortakrobaten am Freitagabend im Lalu, „aber so wie Kunze die Geschichten liest, nehme ich sie ihm voll ab.“ Und eine andere Besucherin der von dem Berliner Gitarristen Carsten Klatte musikalisch exzellent begleiteten Veranstaltung attestierte Kunze: „Er ist der erste Mann, der elegant auf dem Schwebebalken turnt und nicht ein einziges Mal abstürzt“. „Tagebuchtage“ hat Heinz Rudolf Kunze sein neuestes Buch untertitelt. Und ja, jede seiner oft nicht einmal eine Buchseite langen Geschichten ist jeweils einem Datum zwischen dem 15. Mai 2013 und dem 21. September 2016 zugeordnet. Keineswegs täglich hat Kunze dieses Tagebuch verfasst, manchmal liegen nur wenige Tage zwischen den einzelnen Aufzeichnungen, manchmal auch Wochen. Was jeweils den Anlass gegeben hat, sich mit dem einen oder anderen seiner vielfach aus dem Alltag gegriffenen Themen zu befassen, lässt Kunze offen, kommentiert es auch während seiner Lesung nicht. Macht aber nichts, denn so, wie Kunze, der Sänger, seine Tagebuchaufzeichnungen rezitiert, sprechen sie vollständig für sich selbst, brauchen keine zusätzlichen Überschriften oder Interpretationen. Es sind Wortspielereien, Gedankenspiele, Traumspielereien, ja, fast philosophische Texte, die Kunze im beinahe bis auf den letzten Platz gefüllten Lalu vor seinem Publikum ausbreitet. Scharfzüngig beschäftigt er sich mit Alltäglichem und Skurrilem, mischt politische Statements darunter, lässt Selbstzweifel erkennen und bezieht doch klar Position gegen die politische Rechte, gegen Nazis und ihre Verbrechen, für Empathie und Menschlichkeit. Einen „roten Faden“ hat der „Schwebebalken“ nicht. Wirklich konstant bleibt nur eines: die Virtuosität, mit der Kunze sprachlich spielt, gedankliche Ansätze hinterfragt, Mehrdeutigkeiten und Reflexionen in den Raum stellt und leere Worthülsen entlarvt. Lyrische Prosa wechselt ab mit geradezu aggressiver Sprache – je nachdem, um welches Thema es sich gerade handelt. Wichtiges wechselt mit Unwichtigem, Gereimtes mit Ungereimtem, und Tabus kennt Kunze ohnehin nicht. Von seinen Gedankensplittern zitiert er nicht selten nur Bruchstücke. Ein Beispiel: „Frauenquoten für Herrentoiletten – die letzte Männerbastion muss fallen.“ Oder er dekliniert sich durch die Möglichkeiten, sich zuzuprosten, um zu dem Schluss zu kommen: „Alkohol braucht keinen Grund, nur einen offenen Mund.“ Und natürlich greift Kunze am Ende zur Freude des Publikums auch selbst zur Gitarre und singt ein paar Titel aus seinem neuen Programm, mit dem er im Herbst auf Tour gehen wird. Viel Beifall gab’s für einen schönen Abend. Dewezet 22.05.17