Warum 300 Menschen zwei Stunden lang ausharren und welche Botschaft der Beinahe-Präsident im Gepäck hat

Von Robert Michalla

Hameln. Joachim Gauck ist im Stress. Frühstück in Bern. Mittagessen in Berlin. Abendbrot in Hameln. „Ich habe fast so viele Termine wie der Bundespräsident“, sagt er über Christian Wulff, gegen den er im Sommer die Wahl verlor. Verspätungen kann sich der politische Wanderprediger Gauck nicht leisten. Es ist 15.30 Uhr. Gauck steht am Bahnsteig in Berlin, als er erfährt, dass sein Zug ausfällt. Doch der Theologe hat eine Mission: Er will den Menschen von der Freiheit erzählen. Es ist sein Thema. „Ich habe schon als Junge immer von der Freiheit geträumt“, sagt der einstige DDR-Bürgerrechtler aus Rostock. „Die Freiheit der Erwachsenen predige ich, die ich Verantwortung nenne.“ Heute trägt er die Freiheit in den Westen. Es ist fast wie in der DDR, als die Leipziger den Menschen auf Rügen sagten, wie gut ihre Inselluft sei. „Verglichen mit anderen Teilen der Welt ist unsere Freiheit etwas Wunderbares“, drückt Gauck es aus. In Berlin läuft er zum Autovermieter. Um 19 Uhr will er in Hameln aus seinem Buch lesen. Der letzte freie Wagen ist ein silbergrauer Opel Corsa. Es ist nach 16 Uhr, als er auf die Autobahn 2 nach Hannover fährt. Alles scheint nach Plan zu verlaufen – bis zum Kreuz Hannover Ost. Stau. Acht Kilometer. Der Beinahe-Präsident steckt fest. Er ruft Elisabeth Guske vom Kulturbüro der Stadt Hameln an. Sie organisiert das „Hamelner Forum“. „Mein Navigationsgerät sagt: eine Stunde bis Hameln“, sagt Gauck. Es wird 19 Uhr. Die Menschen strömen zur Messe. Mehr als 300 sitzen im Saal. Sie warten auf Gauck. Guske betritt die Bühne und erzählt vom Stau und der Auskunft des Navigationsgerätes. Die Ausharrenden nehmen es gelassen. Kaum einer geht. Es wird 20 Uhr. Das Wasser in der Karaffe auf der Bühne hat Zimmertemperatur. „Herr Gauck hat mir gerade gesagt, sein Navigationsgerät sagt immer noch: eine Stunde bis Hameln.“ Ein leises Raunen geht durch den Saal. Den Gästen sagt Guske noch, dass sie ihre Karte abgeben und ihr Geld zurückbekommen können, wenn sie wollen. Doch kaum einer will. DDR-Mentalität im Westen. Die Menschen bleiben und warten wie einst im Osten beim Bäcker. Auch Friderike Gebhard wartet auf den Star des Abends. Die Gymnasiastin nutzt die Zeit, um eine SMS zu schreiben. „Ich warte auf jeden Fall“, sagt die 18-Jährige. „Wenn ein solcher Mensch, der so viel erlebt und bewegt hat, nach Hameln kommt, will ich ihn unbedingt sehen.“ Ein gut 80 Jahre alter Senior pflichtet ihr bei. „Ich bin nicht mal verärgert“, sagt der Brandenburger. „Ich habe schon so viel miterlebt. Früher hatten wir acht Kekse am Tag, da kann ich doch zwei Stunden warten“, so der bekennende Helmut-Schmidt-Fan. Dann dreht er sich um und bringt seiner Frau Kaffee. Gauck wäre der Bessere gewesen, sagt er noch, bevor er in der Masse der 300 verschwindet. Aus dem Saal tönt mittlerweile Klaviermusik. Die Veranstalter haben einen Pianisten aufgetrieben. Zwischen den Stücken erhält er Applaus aus dem Publikum. Der Hefehof gleicht einem Café. Stühle dienen als Tische. Kaffeelöffel klirren in den Tassen. Die Menschen haben sich mittlerweile mit Proviant aus dem nahegelegenen Supermarkt versorgt und unterhalten sich. „Er ist ein Netter“, sagen sie über Gauck, „ein ganz toller Typ Mensch.“ Es ist 20.55 Uhr. „Er kommt“, sagt jemand. Dann biegt er um die Ecke. In der rechten Hand trägt Gauck seinen Aktenkoffer, mit der linken fährt er sich durchs Haar. Das blaue Hemd ist zerknittert. Zeit zum Umziehen hatte er nicht. Die Menschen klatschen. Gauck lacht. Trinken will er nichts. Essen auch nicht. Er will predigen. „Los geht’s“, sagt er und klatscht in beide Hände. Der Pianist hat die Bühne wieder verlassen. Er wolle ihm später die Hälfte seines Honorars abgeben, sagt Gauck. Auch einen Zusatztermin bietet er am nächsten Morgen in der Stadtbibliothek an. Für die, die seine Botschaft am Dienstag nicht hörten. „Das macht ihn so groß“, sagt Guske. Dann schenkt sich Gauck ein Wasser ein und sagt: „So was habe ich ja noch nicht erlebt, dass so viele Menschen zwei Stunden lang auf mich warten. Sie sind so ungeheuer toll. Ich bin gerührt.“ Er putzt seine Brille, steckt das Tuch weg und fängt an, zu lesen. Die Stimme des 70-Jährigen fliegt über die Köpfe der Menschen hinweg. Im Saal ist es still. Gauck fängt bei seiner Kindheit an, spricht über seine Zeit als Pastor, Zeiten, die ihn prägten. Der einst in seinem Land Eingeschlossene erzählt den Menschen von der Würde, die nur in der Freiheit möglich sei. Dieses Thema eint sie alle. Es eint sie hinter Gauck. Um diese Botschaft zu verbreiten, ist er pausenlos unterwegs. In dieser Rolle fühlt er sich wohl. Beschenkt sei er, sagt er dazu. Die Tagespolitik tritt zurück. Als Mediator im Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 war er im Gespräch. „Keine Zeit“, lautete seine Antwort. Überhaupt plane er in der nahen Zukunft erst mal nichts, schon gar nichts Politisches. Termine hat er genug, zum Beispiel eine Preisverleihung. „Die Laudatio auf mich hält Christian Wulff“, sagt Gauck und grinst ein wenig. Dewezet 04.11.2010