Abend mit Karasek: Die Präzision des Winzigen in Höchstform
„Süßer Vogel Jugend oder der Abend wirft lange Schatten“:
Karasek liest zum „Tag der Leseratten“
Von Dorothee Balzereit. Dewezet 08.07.2007 Hameln.

Es war der vielleicht berührendste Moment des Abends, als ein distinguierter, schlanker älterer Herr mit grauem Haar fragte: „Herr Karasek, woher nehmen Sie die Präzision des Winzigen? Wo haben Sie das gelernt?“ Er bezog sich damit auf die von Hellmuth Karasek beherrschte Kunst, beim Erzählen heiter, fröhlich und völlig unangestrengt vom Ästlein ins Stöcklein zu kommen. „Das ist ein großes Kompliment, das sie mir da machen“, antwortete der aus dem literarischen Quartett bekannte Literaturkritiker und fügte an: „Aber wissen Sie: In solchen Details hängt das Leben.“ Die Kunst des Schnürsenkelbindens Solchermaßen bestätigt, fuhr er begeistert fort, über die Kunst des Schnürsenkelbindens im Alter zu fabulieren. Die hatte Karasek dem Publikum bei seiner Lesung zum Hamelner „Tag der Leseratten“ im Lalu zuvor verschlungen und zugleich herrlich nachvollziehbar in einer seiner Geschichte vor Augen geführt, und dabei – der Länge wegen – doch eine der schönsten Stellen ausgelassen: nämlich die, wo sich der Schnürsenkel wie ein Pinsel auffächert und man ihn noch nicht mal mit Spucke wieder durchs Loch bekommt. Bei der Frage, wo er das gelernt habe, betrat ein Filmgenie, dem man an diesem Abend noch öfter begegnen sollte, die imaginäre Karasek-Bühne: Er nannte den großen Billy Wilder als Lehrmeister, der ihm bei einem Treffen, auf seine sechs Oscars angesprochen, geantwortet habe: „Mit Preisen und Ehrungen ist es wie mit Hämorrhoiden, am Ende bekommt sie jedes Arschloch“. Überhaupt hatte der „publizistische Turbokarpfen im Teich der grauen Hechte“ (Zitat Gerhard Stadelmaier) bei jeder Frage oder Feststellung aus dem Publikum ein Bonmot oder eher noch eine Mini-Parabel aus seinem ereignisreichen Leben als Berufs-Beobachter und professioneller Geschichten-Sammler parat. Manchmal vielleicht ein wenig zu schnell, so dass es ein bisschen einstudiert wirkte, aber das soll auch die einzige Kritik bleiben, denn – ob profimäßig inszeniert oder nicht – wenn Karasek mit seiner angenehm warmen, immer leicht fragenden, nie anstrengenden Stimme anfängt zu sprechen, möchte man einfach nur hineingleiten in seinen Erzählstrom. Und so lauschte das Publikum denn auch hingerissen den Geschichten aus seinem Buch „Süßer Vogel Jugendoder der Abend wirft lange Schatten“, in dem es um präsenile Bettflucht, die Unfähigkeit, sich besonders in der schlaflosen Phase irgendwelcher Namen zu entsinnen – „außer Umberto Eco, weil ich den nicht mag“ – um Rechthaberei, Streitsucht und hundert andere Eigenschaften und Entdeckungen geht, die im Alter an Kontur gewinnen. Bei Karasek hört man sogar bei diesem Thema gerne zu, obwohl „das Schreiben schrecklich war und mich fast in die Alterspsychose getrieben hat“ wie der Literat und Literaturkritiker nebenbei bemerkte. Der sprachlich ausgefeilte ironische Zugang erlaubte, das Altern mit einem zwinkernden Auge zu betrachten, ohne dass das ernsthafte Element Albernheiten geopfert wurde. Oder wie Karasek es ausdrückte: „Man muss in der Lage sein, über sich selbst zu lachen, wenn man dem Alter komische Aspekte abgewinnen will.“